Día de los Muertos in Jalisco: 6 Tage durch Mexikos leise und laute Seele.
Von Gordon Below
A ls wir Ahualulco de Mercado erreichen, steht die Sonne schon hoch am Horizont. Hinter uns liegen die endlosen Baustellen rund um Guadalajara – ein Sinnbild für Tempo, Wachstum und die kommende Fußball-Weltmeisterschaft. Vor uns öffnet sich ein Dorf, das langsamer atmet. Ein Ort mit Gesicht, mit Stimmen, mit Geschichte. Am Abend laufen Kinder über den Schulhof. Ihre Kostüme leuchten in kräftigen Farben. Masken, Schminke und Stoffe sind selbst gemacht und strotzen vor Stolz. Hier beginnt der Día de los Muertos nicht auf dem Friedhof, sondern im Alltag. Zwischen Agavenfeldern, den runden Pyramiden von Guachimontones und den Bergen am Horizont beginnt eine Reise, die weniger die Frage stellt, wohin man geht, sondern die einen ankommen lässt.
Bereits am nächsten Tag steht Ahualulco Kopf. Die Straßen sind mit farbigen Holzspänen bedeckt, die wie fragile Mosaike kunstvoll gelegt wurden. Bald wird hier die Prozession ziehen. Trommeln hallen durch die Gassen, Musik mischt sich mit Kinderlachen. Eltern stehen am Rand und beobachten, wie ihre Geschichte weitergetragen wird – von einer Generation zur nächsten. Überall sind Altäre zu sehen: Fotos, Kerzen, Brot, Früchte und die leuchtend orangefarbenen Cempasúchil-Blumen, deren Duft den Seelen angeblich den Weg zurück weist. In Mexiko trauert man nicht still. Man feiert die Erinnerung. Laut, bunt und würdevoll.
Der Día de los Muertos wird sowohl gefeiert als auch gebetet – laut und leise zugleich.
Das zeigt sich besonders eindrucksvoll am 1. November. Der Friedhof lebt. Zwischen den Gräbern ertönen Trompeten, eine Blaskapelle spielt, Kinder laufen umher, Familien sitzen gemeinsam beisammen, essen, trinken und unterhalten sich. Es riecht nach Blumen. Der Tod ist hier kein Bruch, sondern Teil des Kreislaufs. Später zieht im Nachbarort eine Prozession mit Pferden durch die gepflasterten Straßen – eine Szene wie aus einer anderen Zeit. Am Abend stehen junge Menschen auf der Bühne und singen und tanzen zu Liedern aus allen Regionen Mexikos. Dieser Tag macht deutlich: Der Tod ist nicht das Ende, sondern der Moment, in dem die Erinnerung Form annimmt.
Dann wird es still. Die Berge rufen. Tief in der Sierra de Ahualulco, verborgen im Wald, liegen sie: die Piedras Bola, geheimnisvolle Steinkugeln, rund, glatt und scheinbar perfekt. Die Menschen hier erzählen, dass einst Götter mit Steinen gespielt und sie dann vergessen haben. Zwischen Farnen, Moos und Felsen liegt eine Ruhe, die sich nicht erklären lässt. Zehn Kilometer zu Fuß, hin und zurück, über schmale Pfade und Bergrücken. Dieser Ort fordert nichts, er gibt. Erdung. Klarheit. Begleitet werde ich von Armando und seinen Cousins. Zurück im Dorf wartet die Familie mit Essen, Lachen und Geschichten. Es gibt keinen Anlass, kein Programm, kein Ritual – nur Menschlichkeit. Ich verstehe kein Wort. Und doch alles.
Mexikos Seele wartet in den Nebenstraßen, in den Küchen und in den Gesprächen.
Am nächsten Morgen wechseln wir die Szenerie. Tequila. Ein Name, der längst größer ist als der Ort selbst. Wie München für Bier. Die leuchtend blauen Agavenfelder ziehen sich bis zum Horizont. Dahinter erhebt sich der mächtige, erloschene Vulkan Volcán de Tequila, dessen Asche die Erde nährt. Diese Landschaft ist UNESCO-Weltkulturerbe. In der Stadt selbst prallen Welten aufeinander: Touristen, Souvenirs, Führungen. Doch Mexikos Seele zeigt sich nie auf den Hauptplätzen. Sie wartet in den Nebenstraßen, in den Küchen und in den Gesprächen. Ramses, ein Verwandter der Familie, nimmt uns mit hinter die Kulissen. Er erzählt von einer Explosion in einer Destillerie, von Verantwortung, Wandel und den Menschen hinter dem Mythos. Später sitzen wir in einer kleinen Küche und trinken Tequila am Küchentisch. Kein Marketing, kein Storytelling. Nur Geschmack. Auf dem Rückweg halten wir am Rand eines Canyons. Die Sonne steht tief über der Sierra Madre, die Felsen werfen Schatten. Ein stiller Moment nach einem lauten Tag.
Guadalajara ist schließlich ein Kontrast. Die Stadt ist groß, modern, katholisch und selbstbewusst. Im Calaverandia-Park Avila Camacho findet ein Festival statt. Es gibt drei Bühnen, überall Musik, leckeres Essen und gute Laune bis spät in die Nacht. Am nächsten Morgen lerne ich die andere Seite dieser Stadt kennen: Ich gehe von Kirche zu Kirche. Kerzen, Stille, Gebete. In einer Kirche steht ein riesiger Schrank mit Urnen, in dem die Namen alphabetisch sortiert sind wie in einer Bibliothek der Erinnerung. Hier ist der Día de los Muertos leise. Kühl. Distanzierter. Und doch voller Liebe. Die Menschen verweilen und sprechen im Stillen mit ihren Verstorbenen. In den Vierteln stehen noch immer kleine Ofrendas vor den Häusern. Mexiko trauert auf zwei Arten: mit Musik und mit Gebet. Beides zielt darauf ab, die Erinnerung lebendig zu halten.
Diese Tage in Jalisco fühlen sich wie eine Sinfonie an. Jeder Ort hat seine eigene Tonart, doch alles schwingt im selben Rhythmus. Von den Festen in Ahualulco über die stillen Steine der Bollas und die Agavenfelder von Tequila bis zu den Kathedralen Guadalajaras. Mexiko ist kein Ort, den man besucht. Mexiko ist ein Gefühl, das bleibt. Zwischen Leben und Tod. Und genau dort, in diesem schmalen Raum dazwischen, beginnt das Verstehen. Hier gibt es noch mehr Bilder von meiner Reise.
Mein Fazit
„ Wer Jalisco einmal erlebt hat, trägt ein Stück Mexiko im Herzen weiter.“
Gordon Below, Profi-Fotograf und Fototrainer www. derfotograf. net
In Jalisco treffen dörfliche Rituale, lebendige Prozessionen und familiäre Friedhofsbesuche auf die stille katholische Tradition der Großstadt. Eine Reise dorthin lohnt sich, weil der Día de los Muertos nicht inszeniert wirkt, sondern Teil des Alltags ist. Hier wird Erinnerung nicht museal bewahrt, sondern gelebt – in Familien, Dörfern, Kirchen und auf der Straße.